Der grosse breitschultrige Mann stand aufrecht und in seiner kleinen Verkaufsbude wie eine Mumie in ihrem Sarkophag. Es handelte sich um ein enges Geschäft, nur einen halben Meter breit und gerade einmal dreißig Zentimeter tief; es war vollgestellt mit kleinen Flaschen für Essenzen, Salbentöpfchen sowie Phiolen, die Elixiere gegen Impotenz und Unfruchtbarkeit enthielten. Es strömte den Geruch schweren, alles durchdringenden Parfüms aus, der die Luft bis ans Ende der Gasse - und sogar darüber hinaus - erfüllte und einem den Atem nahm.

Mit geschickten Handgriffen entkorkte der Mann eine winzige Phiole und ließ eine Kundin, die auf der Schwelle seines Ladens stand, daran riechen.

»Ein einziger Tropfen dieses Parfüms, und die Männer werden für dich sterben«, sagte er.

»Ich möchte niemanden töten«, antwortete die Frau lachend. »Ich möchte meinem Mann gefallen.«

»Dann verkaufe ich es dir nicht«, sagte der Mann. »Er tut mir leid. Er wird zumindest dem Wahnsinn verfallen.«

»Welch ein schwarzer Tag! Was erzählst du für einen Unsinn? Ich kaufe es dir ab.«

»Gut! Für dich macht es nur zehn Piaster.«

»Zehn Piaster! Bei Allah! Du ruinierst mich! Ich bin es, die wahnsinnig wird. Hier hast du dein Geld.«

Sie kramte in den Falten ihrer Melaya herum, holte ein Tuch heraus, löste den Knoten und zählte die Summe ab. Der Händler überreichte ihr die Phiole.

»Du wirst sehen«, sagte er. »Du wirst mir ewig zu Dank verpflichtet sein. Dein Mann wird dich nie verstoßen. Er wird ohne dieses Parfüm in seiner Nähe nicht mehr leben können.«

»Er braucht doch nur zu dir zu kommen, um es sich zu beschaffen.«

»Beim Propheten! Ich werde es ihm nicht verkaufen.«

Die Frau ging mit ihrem Parfümfläschchen davon, und der Mann wandte sich Yeghen zu.

»In Ordnung«, sagte er. »Mit dem Preis bin ich einverstanden. Ich nehme dir die Ware ab.«

»Ich bringe sie dir so schnell wie möglich. Ich weiß aber noch nicht genau, wann. Sie muß bald bei mir eintreffen.«

»Es ist hoffentlich eine gute Qualität.«

»Die beste«, versicherte Yeghen. »Du weißt, daß ich mich damit auskenne. Gehab dich wohl.«

Nachdem er die Bude des Parfumeurs verlassen hatte, schlug Yeghen die Richtung zum Cafe des Miroirs ein. Er fühlte sich etwas beklommen, weil der Mann Mißtrauen gehegt hatte. Es war nicht leicht gewesen, ihn zu überzeugen. Die Drogenhändler kannten diesen Trick nur zu gut; Yeghen hatte ihn schon mehrmals erfolgreich angewandt. Allerdings muß gesagt werden, daß es sich um eine ganz simple Gaunerei handelte. Es ging darum, einen Handel über eine bestimmte Menge Heroin abzuschließen und dem Käufer dann im entscheidenden Augenblick ein Päckchen auszuhändigen, in dem sich Natriumsulfat befand, das man in der Apotheke gekauft hatte. Die Übergabe mußte - angesichts der Umstände - in aller Eile vonstatten gehen, das hinderte den Käufer daran, die Ware zu prüfen. Wenn er den Schwindel entdeckte, war es bereits zu spät. Er konnte den Betrüger nur noch verfluchen, es jedoch nicht wagen, sich irgendwo über ihn zu beschweren.

Yeghen hatte diese unredliche Strategie schon lange nicht mehr angewandt. Nicht aus Gewissensgründen, sondern weil sein schlechter Ruf ihn bei allen Drogenhändlern der Stadt verdächtig machte. Es fiel ihm schwer, neue Opfer zu finden. Der Mann, an den er sich schließlich gewandt hatte, war einer der wenigen Händler, die er noch nie geprellt hatte und zu dem er die besten Beziehungen unterhielt. Trotzdem war das Risiko erheblich; der Mann betätigte sich nämlich auch als Polizeispitzel. Er könnte ihm eine Falle stellen. Dennoch war Yeghen fest entschlossen, das Risiko einzugehen; er sah keine andere Möglichkeit, sich das Geld zu beschaffen, mit dessen Hilfe Gohar nach Syrien gehen und sich den Konsequenzen seines Verbrechens entziehen konnte.

Als er ins Cafe des Miroirs trat, sah er Gohar in Begleitung El Kordis an einem Tisch sitzen. Die beiden Männer sprachen nicht miteinander. El Kordi, der finsterer denn je dreinblickte, schien fürchterliche Rachegedanken zu hegen. Gohar hingegen lutschte ruhig und zufrieden sein Haschischkügelchen, wobei sich sein Blick in der Schar der Gäste verlor, die die Terrasse des Cafes bevölkerte; von Zeit zu Zeit griff er nach dem Glas, das vor ihm stand, und trank einen Schluck lauwarmen Tee. Wortlos setzte Yeghen sich zu ihnen; auch er hatte keine Lust zu sprechen. Er dachte über den Coup nach, den er gerade vorbereitet hatte; wenn alles wie geplant verlief dann würde er bald das Geld besitzen, das er Gohar für seine Reise versprochen hatte. Gohar vor dem Schlimmsten zu bewahren, ihn vor dem Zuchthaus, vielleicht sogar dem Galgen zu retten, war ihm gleichsam zu einer heiligen Pflicht geworden. Die ganzen letzten Tage hatte er nur noch darüber nachgedacht, wie er ihm helfen könnte. Sein Erstaunen über Gohars Verbrechen war immer noch sehr groß; dieses Rätsel ließ ihm einfach keine Ruhe. Was mochte Gohar nur dazu veranlaßt haben? Welche absurde Verkettung von Umständen hatte dazu geführt, daß er die einzige Tat beging, für die er ganz und gar nicht geschaffen war? Gohar hatte keinerlei Hang zur Gewalt. Wie sollte man sich also vorstellen können, daß er über eine kleine wehrlose Prostituierte, eine ganz und gar erbarmenswerte Kreatur, herfiel? Yeghen hätte von Gohar gern nähere Einzelheiten über die grauenerregende Szene erfahren, die sich zwischen ihm und seinem Opfer abgespielt hatte, aber eine Art Schamgefühl, ein feines Gespür für Diskretion, hielt ihn ab, danach zu fragen. Warum mußte er es überhaupt wissen? Mußte wahre Freundschaft sich nicht gerade auch beweisen, ohne nach Erklärungen zu verlangen?

Plötzlich heulte das Radio los wie ein Sturm, und eine Welle ohrenbetäubender Musik fegte über die Terrasse. Der Lärm rüttelte Gohar auf; erst jetzt schien er die Anwesenheit Yeghens zu bemerken. Ein schwaches Lächeln erhellte sein Gesicht.

»Du wirkst erschöpft«, sagte er. »Ist etwas nicht in Ordnung mit dir? Bist du krank?«

»Ach, es ist nichts!« antwortete Yeghen. »Ich bin ganz einfach müde. Ich habe seit ich weiß nicht wieviel Tagen nicht mehr in einem Bett geschlafen.«

»Bist du aus deinem Hotel ausgezogen?«

»Ja, Meister! Es war zu gefährlich; die Polizei kannte meine Adresse. Und ich hatte kein Geld, um anderswohin zu gehen. Kein einziges Hotel will mir Kredit geben.«

»Kann ich etwas für dich tun? Mein Zimmer steht dir zur Verfügung.«

»Danke, Meister! Aber heute abend habe ich Geld. Und ich hege die Absicht, mir ein königliches Bett zu leisten.«

»Glaubst du, daß sie dich nicht wieder ausfindig machen?«

»Ich brauche einige Tage Ruhe vor ihnen; so lange, bis ich die Sache zu Ende gebracht habe, die uns beschäftigt. Wenn wir sie erst einmal hinter uns gebracht haben, ist mir alles andere egal. Sie haben nichts gegen mich in der Hand.«

»Wieso lassen wir das Schicksal nicht seinen Lauf nehmen?« fragte Gohar. »Wovor fürchtest du dich?«

»Wovor ich mich fürchte, Meister? Ich fürchte, dich zu verlieren! Für meinen Egoismus bitte ich um Vergebung. Ich weiß, daß es dir vollkommen gleichgültig ist, was passieren kann. Aber denk bitte auch an mich. Den Gedanken, dich zu verlieren, ertrage ich nicht.«

»Aber wenn ich nach Syrien gehe, dann verlierst du mich doch auch, mein Sohn.«

»Nein, Meister! Auch wenn du weit weg bist, so weiß ich doch, daß ich dich nicht verloren habe, solange du nur am Leben bist«

Wie sollte er ihm klar und deutlich sagen, daß er die Höchststrafe für ihn befürchtete: die Verurteilung zum Tod. Zwar würde der Geist Gohars gewiß auch über seinen Tod hinaus weiterleben; seine Zukunft würde genauso dauerhaft sein wie tausendjährige Steine. Aber wo bliebe die Freude? Welche Erinnerung könnte die Anmut eines Wortes wiedergeben, die unerschöpfliche Menschlichkeit, die in einer brüderlichen Geste enthalten ist? Nein, Yeghen brauchte einen lebendigen Gohar - auch wenn er weitab von ihm lebte -, einen Gohar, von dem er nur sicher sein mußte, daß er irgendwo auf der Welt existierte, um ewig glücklich zu sein.

El Kordi schüttelte den Kopf wie um seine eingebildeten Qualen von sich abzuwerfen. Er sah seine beiden Begleiter an, als hätte er sie erst jetzt bemerkt. Ein fiebriger Glanz funkelte in seinen Augen.

»Worüber redet ihr?« erkundigte er sich ängstlich. »Gehst du wirklich nach Syrien, Meister? Dann läßt du uns also allein. Ich flehe dich an, nimm mich mit! Ja, ich will auch weg von hier. Laß uns sofort aufbrechen. Ich habe meinen Wagen; die Pferde scharren vor Ungeduld mit den Hufen. Worauf wartest du, Meister?«

»Was hat er denn?« fragte Yeghen. »Meine Güte! Er ist ja ganz außer sich!«

»Ich glaube, er hat sich mit seiner Geliebten gestritten«, sagte Gohar. »Es wird gleich vorüber sein. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich werde ihn beruhigen«, sagte Yeghen. »Mein lieber El Kordi, hör zu: Auf meinem Weg hierher habe ich eine kleine Kippensammlerin bemerkt, die wirklich wunderbar ist. Sie kann nicht weit sein.«

Yeghen lehnte sich zu El Kordi hinüber und begann, sich leise mit ihm zu unterhalten. Plötzlich aber hielt er bestürzt inne; in der Menge hatte er jemanden wiedererkannt.

»Vorsicht!« sagte er. »Der Offizier, der mit der Aufklärung des Mordes betraut ist, ist hier. Er kommt auf uns zu. Haltet euch auf jeden Fall zurück; sagt nichts.«

»Ich sage, was ich will«, sagte El Kordi. »Ich fürchte mich vor niemandem.«

Gohar schien nicht recht zu verstehen; er griff ruhig nach seinem Glas und trank einen Schluck Tee. El Kordi richtete sich auf seinem Stuhl auf und nahm eine würdevolle Haltung ein. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß er sich auf eine Entscheidungsschlacht vorbereitete.

Nour El Dine stand jetzt in der Nähe ihres Tisches; er schien sie noch nicht gesehen zu haben.

»Sei gegrüßt, Herr Offizier!« sagte Yeghen sarkastisch lächelnd. »Erweise uns doch die Ehre deiner Gesellschaft.«

Nour El Dine runzelte die Stirn; seine Gesichtszüge verhärteten sich. Mit dieser Begegnung hatte er augenscheinlich überhaupt nicht gerechnet. Er war nicht allein: Samir begleitete ihn. Einige Sekunden lang schien er zu zögern, dann lächelte er liebenswürdig.

»Welch angenehme Überraschung!« sagte er. »Es wäre mir eine Freude, die Bekanntschaft deiner Freunde zu machen. Allerdings scheint mir, als hätte ich bereits das Vergnügen gehabt, diesen jungen Mann kennenzulernen. Wir sind uns doch schon einmal begegnet?« fügte er hinzu, indem er sich an El Kordi wandte.

»In der Tat«, antwortete El Kordi steif und hochmütig. »Ich fühle mich wirklich geschmeichelt, daß du dich daran erinnerst, Exzellenz!«

»Wie hätte ich dich vergessen können? Einen intelligenten Menschen vergesse ich niemals. Seit unserem Gespräch kürzlich habe ich eine hohe Meinung von dir. In letzter Zeit habe ich oft daran gedacht. Wir werden uns später noch einmal darüber unterhalten. Zunächst aber möchte ich euch meinen Neffen vorstellen. Er studiert Jura, und ihm steht eine große Zukunft bevor.«

Samir nickte leicht mit dem Kopf, reichte aber niemandem zur Begrüßung die Hand. Es schien ihn eine ungeheure Anstrengung zu kosten, seine Nerven im Zaum zu halten. Er schämte sich, denn er zweifelte nicht daran, daß alle diese Leute von den sexuellen Neigungen Nour El Dines wußten. Er schwankte zwischen dem Bedürfnis, auf der Stelle wegzugehen, und dem zu bleiben, um ihnen seine Verachtung zu zeigen.

»Und das ist Gohar Effendi«, stellte Yeghen vor. »Exzellenz, wie ist es nur möglich, daß du Gohar Effendi noch nicht kennst? Das ist ein großes Versäumnis.«

»Ich bin entzückt, dieses Versäumnis jetzt wettmachen zu können«, sagte Nour El Dine, indem er Gohar begrüßte.

»Nun, setzt euch doch«, sagte Yeghen.

Diese Begegnung schien ihn auf merkwürdige Art und Weise zu beglücken. Er legte eine große Geschäftigkeit an den Tag, bot Stühle an.

Nour El Dine setzte sich; Samir zögerte einen Augenblick, dann nahm auch er Platz, schlug die Beine übereinander und warf dem Offizier einen haßerfüllten Blick zu. Wie gern hätte er ihn umgebracht!

»Was darf ich euch anbieten?« fragte Nour El Dine.

Und ohne auf eine Antwort zu warten, rief er den Kellner und bestellte Tee für alle. Er hatte die Absicht, sich von seiner besten Seite zu zeigen.

»Das ist zuviel der Ehre«, sagte Yeghen. »Wirklich, Exzellenz, du verwöhnst uns.«

»Nicht der Rede wert«, antwortete Nour El Dine. »Ich erfülle doch nur meine Pflicht.«

Dann fügte er völlig unerwartet und in einem anderen Tonfall hinzu:

»Ich habe erfahren, daß du das Hotel gewechselt hast. Stimmt das?«

»Es stimmt«, antwortete Yeghen. »Ich habe etwas Besseres gefunden. Weißt du, Exzellenz, das Hotel, in dem ich wohnte, hatte kein Bad. Ich konnte unmöglich länger dort bleiben. Ich hoffe, das wirst du verstehen.«

»Könnte ich deinen jetzigen Wohnsitz erfahren?«

»Aber selbstverständlich. Ich habe nichts zu verbergen. Momentan wohne ich im Semiramis. Ein erstklassiges Hotel! Ich denke, es wird mir dort gefallen. Hattest du schon einmal ein Zimmer im Semiramis? Ich kann es dir wärmstens empfehlen. Ein wirklich außergewöhnlicher Ort. Man könnte meinen, daß das Leben einen Sinn bekommt, sobald man dort seinen Fuß über die Schwelle setzt. Ich bitte um Vergebung, Exzellenz, aber ich bin wie für den Luxus geschaffen.«

»Ich sehe, daß du nichts von deinem Zynismus eingebüßt hast«, sagte Nour El Dine mit einem gezwungenen Lächeln. »Gleichviel, ich finde ein ständig wachsendes Interesse an dir.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Exzellenz!«

Yeghen war der einzige der ganzen Versammlung, der spürte, wie komisch die Situation in Wirklichkeit war. Dieser Polizeioffizier, der mit dem Mörder, den er suchte, an einem Tisch saß, ihn zu einem Tee einlud und sich ihm gegenüber so höflich verhielt, das war für ihn eine so erstaunliche Sache, daß er darüber sogar die Gefahr vergaß, in der sich Gohar befand. Die ganze Zeit über lächelte er und machte sich einen Spaß aus dieser unglaublichen Situation.

Er konnte dem Bedürfnis, Nour El Dine zu provozieren, nicht widerstehen.

»Nun, Herr Offizier, macht diese Ermittlung Fortschritte?«

»Ich kann mich nicht beklagen«, antwortete Nour El Dine. »Vielleicht steht die Aufklärung kurz bevor. Vergiß nicht, daß Geduld die wichtigste Tugend in meinem Metier ist. Aber da wir gerade dabei sind, hast du darüber nachgedacht, worum ich dich letztens bat? Ich habe viel Nachsicht mit dir, und es täte mir leid, wenn du Scherereien bekämest.«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Yeghen. »Ich würde dir gern helfen, das kannst du mir glauben. Aber diese Angelegenheit übersteigt meine Fähigkeiten bei weitem.«

»Nun, sei’s drum! Lassen wir das. Abgesehen davon ist hier nicht der richtige Ort, um derartige Dinge zu besprechen. Ich denke, ich werde mich mit dir in nächster Zeit an einem geeigneteren Ort unterhalten. Es gibt noch viele Dinge, über die wir miteinander sprechen müssen. Heute abend bin ich ausgegangen, um mit meinem jungen Neffen spazierenzugehen; von Zeit zu Zeit muß man sich ja schließlich auch entspannen, nicht wahr? Hier sind wir unter Freunden; seien wir vergnügt. Die ernsten Dinge kommen später.«

»Paß gut auf, Herr Offizier!« sagte El Kordi, der sein Schweigen schließlich brach. »Du hast doch gesagt, daß wir unter Freunden sind? Können wir also offen zueinander sein?«

»Selbstverständlich«, sagte Nour El Dine. »Allerdings frage ich mich, was du noch zu sagen hast. Hast du nicht bereits alles gesagt? Mir ist eine verwirrende Geschichte zu Ohren gekommen: es scheint, als hättest du in Anwesenheit von Zeugen damit geprahlt, der Mörder der jungen Arnaba zu sein. Ist das wahr?«

»Das ist wahr, du bist nicht falsch informiert worden«, sagte El Kordi. »Ich leugne nichts. Warum zögerst du noch mit meiner Festnahme?«

»Von dieser Geschichte wußte ich nichts«, sagte Yeghen. »Meinen herzlichen Glückwunsch, mein lieber El Kordi.«

»Ich verhafte dich nicht«, fuhr Nour El Dine fort, »weil ich weiß, daß du nicht der Mörder bist. Du wolltest einfach angeben. Warum, weiß ich nicht. Es wundert mich nur, daß ein Bursche wie du, der eine gute Ausbildung genossen hat und mehrere Sprachen spricht, sich mit solchen Absonderlichkeiten abgibt. Ich begreife deine Einstellung einfach nicht. Kannst du mir sein Verhalten erklären, Gohar Effendi? Ich glaube, du hast dieser lächerlichen Szene beigewohnt.«

Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Alle Blicke richteten sich auf Gohar. Sogar Samir starrte ihn mit angespanntem Gesicht und einem Ausdruck fiebriger Erwartung aufmerksam an.

Gohar schwieg. Bereits seit geraumer Zeit spürte er das Haschischkügelchen in seinem Mund nicht mehr; es mußte sich vollkommen aufgelöst haben. Zwei-oder dreimal schluckte er seinen Speichel hinunter und genoß so ein letztes Mal den bitteren Geschmack der Droge. Die Menschen und die Dinge, die ihn umgaben, nahmen kräftigere, schillerndere Farben an, wurden in ihren kleinsten Einzelheiten erkennbar. Das Gelächter und das Stimmengewirr verwandelten sich in ein einheitliches, heimtückisches und geheimnisvolles Gemurmel, das dem Stöhnen einer sinnlichen Frau im Augenblick der Ekstase ähnelte. Sein Blick verharrte auf Nour El Dine, und er war erstaunt, daß er gegenüber seinem Henker ein eigenartiges Wohlwollen empfand. Dank seiner geschärften Wahrnehmung erkannte er in diesem so aggressiv auftretenden Henker eine gequälte und beunruhigte Kreatur, die eher schwach denn gefährlich war. Was für ein schmerzerfüllter Blick! Welche seelische Qual sich hinter dieser Fassade der Autorität verbarg! Sein Instinkt verriet Gohar, daß er von diesem Mann nichts zu befürchten hatte. Und, was noch seltsamer war, daß dieser Mann seiner Hilfe und seines Mitleids bedurfte.

»Der Herr Offizier wartet«, sagte Yeghen. »Mach schon, Meister, sag uns, was du denkst!«

»Nun«, begann Gohar, »ich glaube das Verhalten meines jungen Freundes erklären zu können. El Kordi ist ein Mann mit einer großen und edlen Seele. Er verabscheut die Ungerechtigkeit und würde alles tun, um sie zu bekämpfen. Er würde gern die Welt verändern, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll. Ich glaube, daß dieses Verbrechen ihn sehr empört hat. Er wollte die Verantwortung dafür übernehmen und zum Märtyrer der Sache werden, der er dient. Ich bin glücklich, Herr Offizier, daß du sein Geständnis nicht ernst genommen hast. Man muß ihm diese Torheit nachsehen. Er hat unter dem Einfluß eines sehr ehrenwerten Beweggrundes gehandelt.«

»Meister! Das ist unerträglich!« rief El Kordi aus. »Laß es mich erklären. Ich gebe zu, daß ich nicht der Mörder bin.

Aber was spielt es für eine Rolle, ob ich es war oder ein anderer? Für dich, Herr Offizier, ist es doch nur wichtig, daß irgend jemand festgenommen wird, nicht wahr? Nun, und ich habe mich angeboten. Du müßtest mir dankbar sein.«

»Absurd!« sagte Nour El Dine. »Vollkommen absurd. Darum geht es überhaupt nicht. Ich will den Schuldigen festnehmen, und sonst niemanden.«

»Wieso?« fragte Yeghen. »Wieso nur den Schuldigen festnehmen? Exzellenz, du enttäuschst mich. Du läßt dich von müßigen Erwägungen leiten.«

»Wieso?« wiederholte Nour El Dine. »Aber das versteht sich doch von selbst, oder? Warum sollte ich einen Unschuldigen verhaften?«

»Es muß schwer sein, sich zwischen dem Unschuldigen und dem Schuldigen zu entscheiden«, sagte Gohar.

»Ich entscheide mich nicht«, sagte Nour El Dine. »Aufgrund unanfechtbarer und präziser Beweise gelange ich zu einer festen Überzeugung. Ich nehme erst dann jemanden fest, wenn ich von seiner Schuld überzeugt bin. Ihr seid allesamt gebildete Leute und scheint dennoch keine Vorstellung von Recht und Gesetz zu haben.«

»Recht und Gesetz interessieren uns nicht«, sagte Yeghen, »sondern der Mensch. Was uns interessiert, ist, herauszufinden, warum ein Mann wie du, anstatt sein kurzes Leben zu genießen, seine Zeit damit verbringt, seinesgleichen festzunehmen. Ich finde diese Beschäftigung ziemlich schändlich.«

»Aber ich schütze doch nur die Gesellschaft vor den Kriminellen«, sagte Nour El Dine. »Was seid ihr nur für Leute? Ihr lebt außerhalb der Realität!«

»Die Realität, von der du redest«, sagte Gohar, »ist eine Realität aus Vorurteilen. Ein von Menschen erdachter Alptraum.«

»Es gibt keine zwei Realitäten«, sagte Nour El Dine.

»Doch«, sagte Gohar. »Zunächst einmal ist da die trügerische Realität, in der du zappelst wie ein im Netz gefangener Fisch:«

»Und welche ist die andere?«

»Die andere ist eine heitere Realität, die die Einfachheit des Lebens widerspiegelt. Denn das Leben ist einfach, Herr Offizier. Was braucht ein Mensch zum Leben? Etwas Brot reicht aus.«

»Etwas Haschisch auch, Meister!« warf Yeghen ein.

»Meinetwegen, mein Sohn! Etwas Haschisch auch.«

»Aber das ist die Negation jeden Fortschritts!« ereiferte sich Nour El Dine.

»Man muß sich entscheiden«, sagte Gohar. »Fortschritt oder Frieden. Wir haben uns für den Frieden entschieden.«

»Den Fortschritt überlassen wir dir, Exzellenz«, sagte Yeghen. »Amüsier dich gut damit. Wir wünschen dir viel Vergnügen.«

Nour El Dine öffnete den Mund, um zu antworten, aber sein Hals war wie zugeschnürt, so daß er kein Wort herausbrachte. Die Persönlichkeit Gohars faszinierte ihn. Dieser Mann hatte vom Frieden gesprochen wie von einer einfachen Sache, für die man sich entscheiden konnte. Frieden! Nour El Dine wußte nichts von Gohars früherem Leben, aber er hatte den Eindruck, daß dieser Mann mehr war, als er zu sein schien, das heißt als ein gescheiterter und verarmter Intellektueller. Sein asketisches Äußeres, seine geschliffene Sprache, die Erhabenheit seiner Haltung, alles an ihm zeugte von einer scharfen und durchdringenden Intelligenz. Wie konnte ein solcher Mann in der sozialen Hierarchie nur so tief fallen? Und vor allem, wieso vermittelte er den Eindruck, als würde er daran Gefallen finden und sich dessen rühmen? Sollte er den Frieden etwa in dieser extremen Armut gefunden haben?

Dank der Polizeiberichte wußte Nour El Dine, daß Gohar irgendeine Tätigkeit im Bordell Set Aminas ausübte. Er hatte dem keine große Bedeutung beigemessen, weil er glaubte, es handle sich um einen alten Hausangestellten, an dem Set Amina ein gutes Werk tat, indem sie ihn kleine Arbeiten verrichten ließ. So hatte er ihn sich nicht vorgestellt. Jetzt, wo er ihn vor sich sah, hatte er eine vollkommen andere Meinung von ihm, und er fragte sich sogar, ob er nicht vielleicht der Mörder war.

»Was ist Frieden?« fragte er Gohar, während er ihn mit einem merkwürdig starren Blick ansah.

»Frieden ist das, was du suchst«, antwortete Gohar.

»Bei Allah! Woher willst du wissen, was ich suche? Was ich suche, ist ein Mörder!«

»Erlaubst du, daß ich meinem Erstaunen Ausdruck verleihe, Exzellenz?« sagte Yeghen. »Ich frage mich immer noch, warum du dem Geständnis El Kordis keinen Glauben geschenkt hast. Nur zu gern würde ich deine Gründe kennen.«

»Das ist ganz einfach«, sagte Nour El Dine. »Ich hatte bereits ein Gespräch mit diesem jungen Mann. El Kordi Effendi konnte nicht der Mörder sein. Er spricht zuviel; er läßt sich zu sehr dazu hinreißen, seine Gedanken preiszugeben. Es mangelt ihm an Scheinheiligkeit. Er ist ein Idealist. Der Mann, der dieses Verbrechen begangen hat, scheint mir ein subtilerer, rätselhafterer Charakter zu sein.«

»Wahrhaftig! Du glaubst tatsächlich an die Psychologie«, rief Yeghen aus. »Das hätte ich niemals von dir gedacht, Herr Offizier. Also wirklich, du verblüffst mich ein ums andere Mal.«

»Ich muß gestehen, daß ich zum ersten Mal in einem solchen Fall ermittele. Das Ausscheiden materieller Beweggründe sowie das Fehlen von Hinweisen, die für eine Vergewaltigung sprechen, lassen meiner Meinung nach auf ein Verbrechen ohne Motiv schließen.«

»Ein Verbrechen ohne Motiv!« wiederholte Yeghen. »Du bist tatsächlich ein äußerst scharfsinniger Mensch, Exzellenz. Ich muß um Vergebung dafür bitten, dich bisher für brutal und beschränkt gehalten zu haben.«

»Du hattest unrecht, mein lieber Yeghen«, sagte Gohar, »wenn du den Herrn Offizier für beschränkt hieltest. Seine Analyse der Situation ist sehr treffend. Dennoch würde ich gern etwas anmerken.«

»Was denn?« fragte Nour El Dine.

»Fällt ein Verbrechen ohne Motiv unter die Zuständigkeit des Gesetzes? Ist sein Wesen nicht mit dem eines Erdbebens beispielsweise identisch?«

»Ein Erdbeben hat keine vernunftmäßig nachvollziehbaren Ursachen«, antwortete Nour El Dine. »Es ist ein Verhängnis.«

»Der Mensch ist aber doch zu einem Verhängnis für seine Mitmenschen geworden«, wandte Gohar ein. »Der Mensch ist zu etwas Schlimmerem als einem Erdbeben geworden. Jedenfalls bewirkt er größere Verheerungen. Glaubst du nicht, Herr Offizier, daß der Mensch mit seinem Tun seit einiger Zeit die Schrecken der Naturkatastrophen übertrifft?«

»Ein Erdbeben kann ich nicht festnehmen«, erwiderte Nour El Dine mit komischer Trotzigkeit.

»Und die Bombe!« sagte Yeghen. »Kannst du die Bombe festnehmen, Exzellenz?«

»Schon wieder dieser Wahnsinn!« sagte Nour El Dine resigniert. »Nein, Yeghen Effendi, ich kann die Bombe nicht festnehmen.«

»Dann bezahlt man dich also für nichts und wieder nichts«, sagte Yeghen. »Mir persönlich kann es doch egal sein, ob du einen armen Mörder festnimmst. Wenn du hingegen die Bombe festnehmen könntest!«

Samir beteiligte sich nicht an dem Gespräch; die ganze Zeit über war er in seiner Haltung kalter Mißachtung verharrt. Diese ganze Versammlung schien ihn offenbar anzuwidern. Dennoch war seine Neugierde geweckt. Auch wenn er sie verachtete, so waren diese Menschen doch eine neuartige Erfahrung für ihn; etwas Ähnliches war ihm noch niemals zuvor begegnet. Er hatte zwar den Eindruck, als redeten diese Leute Blödsinn; aber auch, als täten sie es mit Absicht, um Nour El Dine zu reizen. Sie schienen sich sehr zu amüsieren. Samir sah El Kordi an, und ohne zu wissen warum, verstand er, daß zumindest dieser Bescheid wußte. Er schien Nour El Dine beinahe ebensosehr zu hassen wie er selbst. Hatte der Polizeioffizier bei ihm vielleicht schon Annäherungsversuche unternommen? Samir wandte den Kopf ab; die Scham, die er empfand, verwandelte sich in Wut.

Er stand auf.

»Was ist? Gehst du?« fragte ihn Nour El Dine.

»Entschuldige, mein Bey, aber ich muß nach Hause zurück. Mein ehrenwerter Vater erlaubt es mir nicht, lange auszubleiben.«

»Grüße die ganze Familie von mir«, sagte Nour El Dine. »Das werde ich ganz bestimmt tun«, sagte Samir in höflichem, aber scharfem Ton.

Er drehte ihnen den Rücken zu und überquerte mit hocherhobenem Kopf die Cafeterrasse.

»Ich bitte euch, meinen jungen Neffen zu entschuldigen«, sagte Nour El Dine. »Er ist äußerst schüchtern.«

»Er ist nett«, sagte Yeghen. »Wirklich nett. Aber es ist nun auch für mich Zeit zu gehen. Ich bedauere, Exzellenz, eine so gewinnbringende Unterhaltung nicht weiterführen zu können. Aber ich kann mich zugegebenermaßen vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.«

»Es hat mich sehr gefreut, Exzellenz, deine Bekanntschaft zu machen«, sagte Gohar im Aufstehen. »Bis bald, hoffentlich.«

»Könnte ich dich noch einen Augenblick begleiten?« bat Nour El Dine.

»Mit Vergnügen«, antwortete Gohar. »Ich stehe ganz zu deiner Verfügung.«

Yeghen war bereits verschwunden. El Kordi blieb allein zurück; er schien den Aufbruch der anderen nicht bemerkt zu haben.

Yeghen unterdrückte einen Schrei und blieb stehen. Ein furchtbarer Zweifel überkam ihn und riß ihn aus seiner Erstarrung. Er fühlte plötzlich ein Brennen im ganzen Körper; es war allerdings nicht wegen der Kälte Die Kälte vermochte nicht bis in die Regionen seines Körpers vorzudringen, wo seine Angst saß. Er hielt einen Moment lang inne, dann steckte er hastig die Hand in die Tasche und holte das kleine Geldstück heraus. Mit steifen Fingern betastete er es und rieb ausgiebig daran, um seine Beschaffenheit und Härte festzustellen; aber das schien ihm nicht zu genügen. Die düstere Vorahnung, die ihn ergriffen hatte, hinderte ihn immer noch am Atmen. Er mußte sich so schnell wie möglich Sicherheit darüber verschaffen, ob das Geldstück echt war, aber wie sollte er das in dieser Dunkelheit bewerkstelligen? Er mußte es bei vollem Licht sehen.

Am Ende der Gasse stand eine Straßenlaterne; von einer unsagbaren Angst gepackt, ging Yeghen auf das Licht zu. Die Grausamkeit des Schicksals offenbarte sich nun in ihrem ganzen Ausmaß. Sollte das Geldstück gefälscht sein, wäre es vorbei mit seiner Nachtruhe. Sein Traum von einer erholsamen Nacht in einem Hotelzimmer, ganz ohne Kälte und ohne die durch sinnloses Herumlaufen verursachte Müdigkeit, hing jetzt einzig und allein von diesem einen Geldstück ab.

Yeghen war müde; er träumte von einem wunderbaren Schlaf dem der unergründliche Geschmack des Nichts eignete. Die Straßenlaterne war noch etwa zehn Meter entfernt; Yeghen konnte sich nicht mehr länger zurückhalten und blieb stehen, um das Geldstück zu betrachten. Zitternd öffnete er die Hand, brachte sie auf Augenhöhe und stieß im selben Augenblick einen Schrei des Entsetzens aus. Die Münze war auf den Boden gefallen; seine Hand zitterte so sehr, daß er nicht bemerkt hatte, wie sie ihm entglitten war. Yeghen warf sich beinahe auf den Boden und suchte ihn intensivst mit den Augen und mit den Händen ab; weder sah noch fühlte er etwas. Schwindel ergriff ihn, und sein Gehirn begann zu delirieren. Die Straßenlaterne stand zu weit weg; der Lichtschein, den sie warf reichte gerade bis an den Rand des Bereiches, den er absuchte. Yeghen wurde wahnsinnig vor ohnmächtiger Wut. Er verfluchte sich dafür, das Geldstück aus der Tasche genommen zu haben. Dann schimpfte er auf die Regierung. Diese Zwei-Piaster-Stücke waren einfach viel zu klein; hätte die Regierung keine größeren herstellen können?! »Zuhälterregierung!« Was dachte sie sich eigentlich bei der Herstellung dieser Münzen? Geld zu sparen. Eine Schande und eine Absurdität war das!

In seinem Wahn dachte Yeghen daran, die Straßenlaterne an den Ort der Katastrophe zu befördern. Um sein verlorenes Geldstück wiederzufinden, glaubte er sich zu allem fähig. Plötzlich fielen ihm die Streichhölzer ein, und er fuhr hoch. All sein Schmerz war wie unter der Wirkung eines Schocks verschwunden. Die Streichholzschachtel befand sich in seiner Hosentasche; er holte sie heraus, zündete ein Streichholz an, beugte sich nach vorn und ließ die Flamme kreisen. Dieser erste Versuch führte zu nichts; das Geldstück blieb unauffindbar. Yeghen entzündete ein weiteres Streichholz, machte einige Schritte seitwärts, wobei seine Nase beinahe den Boden berührte. Wenige Augenblicke später hüpfte ihm das Herz vor Freude in der Brust; die Münze lag vor ihm, funkelnd und rein wie ein Diamant. Er ergriff sie, steckte sie hastig in die Tasche, verharrte dann einen Moment lang wie verdutzt, völlig erschöpft von der Anstrengung. Das Streichholz, das er vergessen hatte auszumachen, verbrannte ihm die Finger.

»Zuhälterregierung!« schrie er.

Das Geräusch eines schweren Schrittes war zu hören, dann blieb jemand hinter ihm stehen. Yeghen hielt den Atem an, drehte sich um und befand sich von Angesicht zu Angesicht mit einem Polizisten. Eine düstere Erscheinung; Yeghen verharrte wie versteinert. Diesmal jedoch weder vor Müdigkeit noch vor Kälte oder Hunger: der offizielle Repräsentant allen Unheils stand vor ihm. Er lächelte einfältig.

»Du beschimpfst also die Regierung!« sagte der Polizist.

»Ich?« stotterte Yeghen. »Ich beschimpfe niemanden, Exzellenz.«

»Ich habe gehört, wie du gerade geschrien hast: >Zuhälterregierung.< Ich bin schließlich nicht taub. Los, gib es zu.«

»Oh, das heißt gar nichts, Exzellenz«, sagte Yeghen. »Es ist nur wegen dieses Streichholzes, an dem ich mir die Finger verbrannt habe.«

»Um das Streichholz kümmern wir uns später«, sagte der Polizist. »Im Augenblick möchte ich von dir wissen, ob unsere Regierung eine Zuhälterregierung ist, ja oder nein?«

»Nein, Exzellenz! Mein Ehrenwort, unsere Regierung habe ich gar nicht gemeint.«

»Und welche Regierung war dann gemeint?«

»Ich dachte an eine ausländische Regierung«, antwortete Yeghen.

»Eine ausländische Regierung«, sagte der Polizist mit träumerischem Gesichtsausdruck. »Du bist ein Lügner. Du dachtest an unsere Regierung, da bin ich ganz sicher.«

»Bei meiner Ehre, Exzellenz, es handelt sich um ein Mißverständnis. Ich schwöre dir, daß ich eine ausländische Regierung meinte. Ich kann dir sogar sagen, von welchem Land.«

Der Polizist schwieg; er schien nachzudenken. Das Nachdenken kostete ihn viel Mühe, sehr viel Mühe sogar, deshalb ließ er es schnell wieder sein. Er begann, sich unwohl zu fühlen.

»Nenn mir den Namen des Landes! Mach schon, schnell!«

Yeghen brauchte nicht lange nach dem Namen des Landes zu suchen; die Welt war zwar groß, und auf ihrer Oberfläche wimmelte es nur so von Ländern, aber Yeghen kostete es keine Mühe, sich für eines zu entscheiden. Der Name kam ganz von selbst über seine Lippen.

»Syrien«, sagte er.

»Syrien?« wiederholte der Polizist. »Das ist weit entfernt. Bist du dir dessen sicher, was du sagst?«

»Absolut sicher. Ich schwöre es dir bei meiner Ehre.«

»Das ist gut«, sagte der Polizist. »Aber ich lasse dich noch nicht laufen. Warum hast du hier Streichhölzer angezündet? Ich beobachte dich nämlich schon eine ganze Zeit lang, weißt du.«

»Ich werde es dir erklären«, sagte Yeghen. »Ich habe vorhin ein Geldstück verloren, und um es zu suchen, habe ich Streichhölzer angezündet. Wie du siehst, ist es ganz einfach.«

»Ein Geldstück! Was ist denn das für eine Geschichte?«

Die Angelegenheit begann kompliziert zu werden. Yeghen fühlte sich erschöpft; er zitterte vor Kälte. Durch welche Art von Hexerei zog sich die Welt um ihn herum so zusammen? Sein ganzes Leben hatte man ihn verfolgt. Und jetzt, an der Schwelle zu einer geruhsamen Nacht, sah er sich von dieser teuflischen Macht umzingelt, die immer auf der Lauer lag. Er haßte die Polizei und vor allem diese Polizisten, perfekte Verkörperungen der Niedertracht. Trotzdem wäre er in dieser Minute lieber auf der anderen Seite gestanden, hätte er dieser beschränkte und stumpfsinnige Polizist sein wollen. Er hatte es satt, immer auf der Seite der Geschlagenen zu stehen. In seinem Inneren hegte er den verrückten Wunsch, auf der Seite der Schläger zu sein, nur für eine Nacht, nur für diese eine Nacht. Schlafen, nicht mehr frieren, sich von dieser schweren Müdigkeit freimachen, die er wie eine Last mit sich herumschleppte. Ja, ein gemeiner Polizist sein, aber schlafen können.

Seine Stimme nahm einen unterwürfigen Ton an, und mit übertriebener Liebenswürdigkeit sagte er:

»Glaube mir, Exzellenz! Ich sage die Wahrheit. Hier ist das Geldstück.«

Yeghen holte es aus seiner Tasche hervor und zeigte es dem Polizisten.

»Ich hatte es gerade wiedergefunden, als du kamst.«

Der Polizist betrachtete das Geldstück und gähnte. Er verspürte keine Lust, bis zur Polizeistation zu gehen, und abgesehen davon schien ihm diese Person von keinerlei Interesse zu sein.

»Ist in Ordnung!« sagte er. »Du kannst gehen. Aber hör auf, dich so verdächtig zu verhalten. Ich habe ein Auge auf dich.«

»Danke, Exzellenz«, sagte Yeghen. »Du bist ein kluger Kopf. Du bist die Verkörperung der Intelligenz. Eines Tages wirst du Minister werden.«

Yeghen atmete tief durch, dann begann er zu laufen. Als er unter der Straßenlaterne ankam, blieb er stehen, öffnete die Hand und begutachtete das Geldstück bei Licht. Es sah normal aus; es war echtes Geld. Niemand würde wagen, es nicht anzunehmen. Yeghen setzte seinen Weg fort. Er spürte immer noch die Gegenwart des Polizisten, der ihn aus dem Dunkel heraus belauerte.

Das erste Hotel, vor dem er stehenblieb, trug den Namen Hotel du Soleil Yeghen ging hinein. Der Hotelier, der auf einem schmutzigen Sofa döste, hob den Kopf und sah Yeghen an, als würde er ihn für einen Dieb halten.

»Was willst du?«

»Ich hätte gern ein Zimmer«, sagte Yeghen.

»Ein Zimmer«, sagte der Mann. »Ja, ich kann dir ein Zimmer geben. Es kostet zwei Piaster. Hast du das Geld?«

Yeghen war auf diese Frage vorbereitet; er hielt das Geldstück in seiner Hand. Dann reichte er es dem Mann. Dieser nahm es, untersuchte es im Licht einer rauchenden Lampe, die den Flur beleuchtete, und sagte dann ehrerbietig:

»Folge mir, mein Bey!«

Sie stiegen eine Treppe ohne Geländer hinauf, deren Stufen ausgetreten und gefährlich wie Fallen waren. Im zweiten Stock blieb der Mann vor einer Tür stehen, die er öffnete.

»Tritt ein!« sagte er. »Es ist das schönste Zimmer im ganzen Hotel. Ich gebe es nur ehrbaren Kunden.«

»Ich danke dir herzlich«, sagte Yeghen.

Das Zimmer war möbliert mit einem Bett aus Eisengestell, auf dem ein blaßrosanes Deckbett lag, einem Stuhl und einem kleinen Tisch aus schwarzem Holz. Yeghen jedoch hatte nur Augen für das Deckbett.

»Sag mal, es gibt hier doch wenigstens keine Wanzen?«

»Wanzen?« fragte der Hotelier empört. »Niemals. Dies ist ein erstklassiges Hotel.«

»Dann ist ja alles in Ordnung, ich danke dir.«

»Ich laß dich jetzt allein«, sagte der Hotelier. »Schlaf gut.«

Yeghen zog sich im Dunkeln aus und legte sich ins Bett. Er schlief sehr schnell ein und begann zu träumen. Er träumte, ein allmächtiger Polizist zu sein, der das Kommando über eine ganze Schar von Rohlingen führte, die mit Schlagstöcken ausgerüstet waren. Er fürchtete niemanden mehr. Er war der unbestrittene Herrscher der Straße. Er war es, der jetzt auf die Armen einschlug. Auf seinem Weg säte er Angst und Schrecken, und all die Elenden flüchteten, wenn er in ihre Nähe kam. Er sah sich, wie er eine kleine und häßliche Figur verfolgte, die niemand anderes war, als er selbst. Schließlich bekam er sie zu fassen, und genau in dem Moment, da er sie mit dem Knüppel niederschlug, spürte er einen fürchterlichen Schmerz, der seinen Körper durchfuhr.

Yeghen wachte auf wobei er einen gellenden Schrei ausstieß. Im Zimmer herrschte eine schneidende Kälte. Er machte eine Bewegung, um das Deckbett wieder zu sich heranzuziehen, aber zu seiner großen Überraschung stellte er fest, daß es verschwunden war. Die Verblüffung nahm ihm den Atem: er verstand einfach nicht, was mit dem Deckbett passiert war. Mit aller Kraft rief er nach dem Hotelier.

Eine Ewigkeit verging, aber niemand antwortete. Yeghen rang nach Luft; er saß auf dem Bett und verschränkte die Arme über der Brust, um sich vor der Kälte zu schützen. Er wollte gerade noch einmal rufen, als die Tür sich öffnete und der Hotelier mit einer Petroleumlampe in der Hand im Türrahmen erschien. Vorsichtigen Schrittes, einen Finger auf den Mund gelegt, trat er näher.

»Wo ist das Deckbett?« schrie Yeghen. »Was ist denn das für eine Geschichte?«

»Es ist nichts«, flüsterte der Hotelier. »Ich lasse gerade einen anderen Gast damit einschlafen. Sobald er eingeschlafen ist, bringe ich es dir zurück, bei meiner Ehre! Aber bitte, ich flehe dich an, mach keinen Skandal.«

Jetzt verstand Yeghen, was passiert war, während er schlief. Der Hotelier mußte in sein Zimmer gekommen sein und ihm das Deckbett weggenommen haben, um es einem neu angekommenen Gast zu geben. Dieses unglaubliche Vorgehen verblüffte ihn völlig.

»Sie haben nur ein Deckbett für das ganze Hotel?« fragte er.

»Aber nein!« sagte der Hotelier immer noch flüsternd. »Das hier ist ein erstklassiges Hotel; wir haben drei Deckbetten. Allerdings haben wir auch viele Gäste.«

»Ich verstehe«, sagte Yeghen. »Was machen wir jetzt? Mir ist nämlich kalt. Und ich möchte schlafen. Ich will das Deckbett.«

»Es dauert nur einen Augenblick«, sagte der Hotelier. »Bei meiner Ehre, ich bringe es dir gleich zurück. Der Gast, dem ich es gegeben habe, war sehr müde; er schlief bereits im Stehen ein. Er muß jetzt schon ganz tief schlafen. Rühr dich nicht von der Stelle! Ich werde nachsehen. Und schrei um Himmels willen nicht so.«

Der Hotelier schlich auf Zehenspitzen hinaus und nahm die Lampe mit. Vor Kälte zitternd blieb Yeghen im Dunkeln zurück. Er hörte, wie der Hotelier nebenan eine Tür öffnete; zweifellos handelte es sich um das Zimmer des neuen Gastes. Yeghen begann zu murmeln: »Hoffentlich ist er eingeschlafen. Mein Gott, mach, daß er eingeschlafen ist!« Dann brach er in ein schrilles Gelächter aus, das wie ein Anflug von Wahnsinn durch das ganze Hotel schallte.